24. Januar 2024

Die Uneindeutigkeit der Bilder

Vor einem weissen Atelierhintergrund steht mittig eine Frau mit blonden langen Haaren. Sie trägt ein schwarzes Kleid, hat die Hände übereinandergelegt und schaut direkt in die Kamera.
Portrait Charlotte Sarrazin. Foto: Amelie Amei Kahn-Ackermann

Erstmals seit 2005 wird in der Schweiz das Schaffen des kanadischen Fotografen Jeff Wall in einer grossen Überblicksausstellung gezeigt. Die Ausstellung präsentiert Walls fotografisches Genie in einer beeindruckenden Bandbreite und vereint jüngere und ältere Werke zu einem fesselnden Dialog. Wir haben Charlotte Sarrazin zum Interview getroffen und einen exklusiven Einblick in Walls einzigartige Kunst der Inszenierung erhalten.

Charlotte, Du arbeitest gerade an der «Jeff Wall-Ausstellung, die diesen Samstag eröffnet wird. Was erwartet die Besucher:innen in der Schau?

CS: «Die Besuchenden erwartet eine Überblicksausstellung von Jeff Walls fotografischem Schaffen. Es ist keine Retrospektive, sondern eine Ausstellung, die keiner chronologischen Abfolge nachgeht, aber sein gesamtes künstlerisches Spektrum präsentiert. Darunter die Grossbild-Diapositive in den berühmten Leuchtkästen, die Schwarz- Weiss-Fotografien und die Farbprints. Die Ausstellung erstreckt sich über 11 Säle und wurde vom Curator at Large, Martin Schwander, in enger Zusammenarbeit mit Jeff Wall und unter Mitarbeit von mir geplant. Uns war es besonders wichtig, dass jüngere mit älteren Werken in einen Dialog treten, um auf diese Weise die vielfältigen inhaltlichen aber auch die formalen Bezüge aufzuzeigen, die sich durch Walls gesamtes Schaffen ziehen. Da die Jeff Wall-Retrospektive im Schaulager beinahe 20 Jahre zurückliegt, dürften vor allem die neueren Werke noch nicht allen bekannt sein.»

Zu unserem täglichen Verhalten gehört das Machen, Bearbeiten und Anschauen von Fotografien, beispielsweise auf Social Media. Was diese Bilder zu vereinen scheint, ist deren inhaltliche Eindeutigkeit, damit sie auch schnell erfasst werden können. Jeff Walls Fotografien scheinen ganz anders zu funktionieren. Wie entstehen seine Fotografien?

CS: «In Walls Frühwerk gibt es viele Werke, die häufig wie Snapshots wirken und das gibt ihnen etwas unglaublich zeitgenössisches und zugängliches. In den meisten Fällen sind aber genau diese Werke konstruiert. In «Boy falls from Tree» beispielsweise, erschafft Wall eine idyllische Gartenszenerie, in der ein Junge von einem Baum herunter fällt. Die Arbeit gehört zu Walls sogenannten «cinematographic photographs». Diese grossformatigen Bilder bestehen zumeist aus einer Vielzahl von Einzelaufnahmen, die vielschichtig und subtil zu einer einzelnen Fotografie komponiert wurden. Wall setzt zuweilen auch auf aufwändige Settings, die mit Bühnenbildern zu vergleichen sind und die teilweise in seinen Ateliers erstellt werden. Bei der Kreation dieser Bilder wird jede Requisite, jede Performer:in, jede Anordnung in einem langen Prozess überdacht und nach kompositorischen Gesichtspunkten angeordnet. Gleichzeitig gibt es in Walls Werk Fotografien, bei denen er keinerlei Eingriffe am Aufnahmeort oder am Motiv vornimmt.»

Das Foto zeigt eine Gartenszenerie. Auf einer grünen Gartenfläche steht ein Gartenhäuschen aus Holz. Daneben steht ein Baum, in dem eine blaue Schaukel baumelt. Ein Junge in kurzen Hosen fällt gerade vom Baum herunter.
Jeff Wall, «Boy falls from tree», 2010, Lightjet-Print, Emanuel Hoffmann-Stiftung, Geschenk der Präsidentin 2012, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel © Jeff Wall


Die scheinbare Authentizität von Bildern kennt man selbst nur zu gut von Bildern in der Werbung oder auf Social Media. Doch auch dort sind selbst die authentischst wirkendenden Fotos oft aufwändig gestellt so auch bei Jeff Wall. Was steht hinter diesem Verlangen nach Inszenierung?

CS: «Wall inszeniert, weil er sich so mit dem Bildinhalt, also der Komposition, dem Bild an sich beschäftigen kann. Diese Bilder sieht er nicht als eine Abbildung der Realität. Denn in erster Linie sind sie das Ergebnis einer intensiven Suche nach einer harmonischen Komposition. Dabei bewegt er sich im Spannungsfeld verschiedener Gegensätze wie Wahrheit und Fiktion, Zufall und Kalkül oder Bewusstem und Unbewusstem. Mit dieser Herangehensweise stellte er in den 1970er-Jahren das traditionelle Konzept der Fotografie als getreues Abbild der Realität in Frage. Und in diesem Zuge wurde die Fotografie als künstlerisches Medium auch neu bewertet und erhielt vermehrt Einzug in Museen.»

Wall spricht oft von der persönlichen Beziehung zwischen den Betrachtenden und einem Bild. Er sagt, dass wenn sich ein Bild für uns wahr [true] anfühle, es auch authentisch sei. Was meint er damit?

CS: «Einerseits ist das ein Zugeständnis, dass Wahrheit eine individuelle Kategorie ist, andererseits bedeutet es, dass seine Bilder keine eindeutigen Aussagen machen und in allen Betrachtenden andere Assoziationen hervorrufen können. Der Assoziationsreichtum, den seine Bilder vermitteln, beruht auch auf deren Uneindeutigkeit. Man sucht dann nach einer Erzählstruktur, die das Gesehene erklärt, in einen Kontext einbindet und das macht die Bilder wahr. Walls Fotografien schaffen es also, auf subtile Art und Weise, in den Betrachtenden etwas auszulösen und Themenfelder aufzutun – seien diese persönlicher oder aber auch gesamtgesellschaftlicher Natur. Durch ihre Vielschichtigkeit widersetzen sich seine Werke auch der Schnelllebigkeit der Bilder, die beispielsweise in den populären Medien im Überfluss zirkulieren.»

Auf einem Foto ist eine herbstliche, weite Ebene zu sehen, die in der Mitte von einem Fluss durchbrochen wird. Auf einer natürlichen Strasse über den Fluss sind vier Personen zu sehen, die sich alle einem Schwall durch die Luft flatternden Blättern zuwenden.
Jeff Wall, «A Sudden Gust of Wind (after Hokusai)», 1993, Grossbilddia in Leuchtkasten, Glenstone Museum, Potomac, Maryland © Jeff Wall


Du hast von zwei unterschiedlichen Herangehensweisen gesprochen, die Wall verwendet. Der inszenierten, sogenannten «cinematographic photography» und der fast dokumentarischen Fotografie, bei der Wall nicht in das Bild selbst eingreift. Macht es für die Betrachtenden einen Unterschied, ob ein Bild inszeniert ist oder nicht? Und: Legt der Künstler überhaupt offen, wie seine Bilder entstehen?

CS: «Im Ausstellungskatalog hat Jeff Wall viele Geschichten und Anekdoten über die Entstehung der einzelnen Werke niedergeschrieben. Das liest sich sehr spannend und legt in seinen eigenen Worten die verschiedenen Bezüge offen, aus denen seine Bilder hervorgehen. Manchmal ist der Auslöser eine Begegnung im Alltag, manchmal ist es ein kunsthistorischer Bezug und manchmal ist es auch etwas aus seinem Unterbewussten. Aber für das Verständnis des Bildes selbst macht es keinen Unterschied, woraus es entstanden ist und ob es inszeniert ist oder nicht. Es kommt auf die Assoziationen an, die es auslöst. Diese entstehen auch unabhängig davon, ob man als Betrachtende:r konkrete kunsthistorische Bezüge erkennt, die Wall in einigen Werken bewusst auftut, wie zum Beispiel in «A Sudden Gust of Wind (After Hokusai).»

Zwei Fotografien nebeneinander. Es ist ein Diptychon. Auf jedem Bild sitzen eine Frau in rosa gekleidet und ein Mann in blau gekleidet auf der Polstergruppe.
Jeff Wall, «Pair of interiors», 2018, zwei Inkjet-Prints, Courtesy of Jeff Wall and White Cube © Jeff Wall


Zum Abschluss: Hast Du ein Lieblingswerk in der Ausstellung und was macht dieses aus?

CS: «Es ist natürlich ziemlich schwierig, bei 55 Werken nur eines zu nennen, weil so viele Werke auf unterschiedliche Art und Weise Tiefgang besitzen. Aber besonders faszinierend finde ich «Pair of Interiors» von 2018. Es handelt sich dabei um ein Diptychon. Die Bilder zeigen jeweils ein Paar aus Mann und Frau, die in einem gedämpft beleuchteten Wohnraum sitzen und ganz in sich gekehrt, ja teilnahmslos und somit selbst wie Möbel wirken. Da einem als Betrachtende:r das Innenleben dieser Personen verborgen bleibt, beginnt man sich auf deren Umgebung, also die Einrichtungsgegenstände zu konzentrieren. Und erst nach einer gewissen Zeit fällt einem dann auf, dass es sich gar nicht um die gleichen Menschenpaare handelt. Die Personen sind lediglich gleich angezogen, frisiert und geschminkt. Durch die Inszenierung des Bildraumes und der Gegenüberstellung im Diptychon lässt Wall verschiedene Verdopplungseffekte entstehen, die zuerst nicht entschlüsselbar sind und das finde ich sehr fesselnd.»

Liebe Charlotte, vielen Dank für das Interview.

Januar 2024

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Fondation Beyeler, Jeff Wall, 28. Januar bis 21. April 2024.

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Charlotte Sarrazin studierte Literatur-, Kunst-, und Medienwissenschaften an der Universität Konstanz und Curatorial Studies an der Zürcher Hochschule der Künste. 2015 und 2016 arbeitete sie als kuratorische Assistentin an Ausstellungen Fluids, a Happening by Allan Kaprow und einer umfassenden Retrospektive von Carl Andre am Hamburger Bahnhof, Nationalgalerie der Gegenwart in Berlin. Im Anschluss war sie drei Jahre in der Berliner Galerie Sprüth Magers als Artist Liaison tätig und betreute Künstler:innen wie Jenny Holzer, Thomas Demand und Nachlässe von Hanne Darboven und Otto Piene. 2020 bis 2023 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und Assistenzkuratorin in der Fondation Beyeler und arbeitete an der Realisierung von Ausstellungen wie Mondrian Evolution und Wayne Thiebaud mit. Seit Februar 2023 ist sie Associate Curator an der Fondation Beyeler.

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